Der Vater eines Mörders by Andersch Alfred

Der Vater eines Mörders by Andersch Alfred

Autor:Andersch, Alfred [Andersch, Alfred]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60080-3
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-05-29T00:00:00+00:00


Oxytonon Akut, Gravis letzte Silbe

Paroxytonon Akut, Gravis vorletzte Silbe

Proparoxytonon Akut, Gravis drittletzte Silbe

Perispomenon Zirkumflex letzte Silbe

Properispomenon Zirkumflex vorletzte Silbe

»Schreibt das alle ab!« befahl der Rex der Klasse. Als er das Rascheln der Hefte hörte, sagte er zu Franz: »Und du, Kien, erkläre ihnen, was diese Liste zu bedeuten hat!«

Er deutete mit der Hand, welche die Kreide hielt, auf das Wort Oxytonon.

[65] »Ein Akut auf der letzten Silbe eines Wortes heißt Oxytonon«, sagte Franz. Er brachte es stockend vor, aber er dachte dabei: das ist ja kinderleicht.

»Bravo«, sagte der Rex. »Dumm bist du nicht. Nur faul. Quod erat demonstrandum. Fahre fort!«

Franz setzte an, das Paroxytonon zu definieren, aber er kam nicht dazu, denn in diesem Augenblick schaltete sich Kandlbinder ein, der Fachmann in dem Studienrat Doktor Kandlbinder hielt es nicht länger mehr aus, sich die Lehrmethoden des Rex ruhig anzuhören.

»Aber Herr Direktor«, begann er wieder, wie vorhin, wenn auch diesmal nicht empört oder geradezu beleidigt, sondern sich zu Sanftmut, Höflichkeit zügelnd, so, als wolle er dem Rex nur gut Zureden, »aber Herr Direktor, mit der ultima-, paenultima- und antepaenultima-Reihe bezeichnet man doch nicht Akzente, sondern ganze Wörter! Nicht der Akzent wird Oxytonon genannt, sondern das ganze Wort, bei dem der Akut oder Gravis auf der letzten Silbe erscheint.«

Der Rex hatte seiner Rede sprachlos zugehört. Dann geschah, was Franz, die ganze Klasse und sicherlich auch Studienrat Kandlbinder ihm niemals zugetraut hätten: er verlor seine Selbstbeherrschung.

»Schweigen Sie!« fauchte er den Klaßlehrer an. Und noch einmal: »Schweigen Sie, Herr Kandlbinder!« Sogar den Doktor hat er diesmal weggelassen, dachte Franz, so eine Wut hat er, daß er den Kandlbinder nur noch mit Herr Kandlbinder anredet. Er macht ihn ganz schön zur Sau. Und alles wegen mir! Ich bin gemein, daß es mir nichts ausmacht, wie der Rex den Kandlbinder vor der ganzen Klasse anpfeift.

»Da nehme ich mir einen Schüler aus Ihrer Klasse vor«, rief der Rex voller Zorn, »und was stellt sich heraus? Er hat nicht einmal die allereinfachsten Grundlagen des Griechischen mitbekommen. Seit Ostern, seit sechs Wochen, leistet [66] er es sich, den gesamten Unterricht zu verbummeln, und Sie«, seine Stimme steigerte sich in ein unverstelltes, tiefes Grollen, »Sie haben es überhaupt nicht bemerkt. Nichts haben Sie bemerkt, streiten Sie es nicht ab, sonst hätten Sie ihn nachsitzen lassen müssen, bis er schwarz geworden wäre, oder Sie hätten zu mir kommen müssen und offen und ehrlich sagen: mit dem Kien werde ich nicht fertig. Denn das durch und durch Skandalöse an diesem Kien ist ja nicht, daß er ein Faulpelz ohnegleichen ist, Faulpelze von solchem Kaliber gibt es in jeder Klasse, sondern daß er sich bis zu dieser Stunde durch Ihren Unterricht hat durchmogeln können. Tz-tz-tz! Und da wagen Sie es, mich zu unterbrechen, wenn ich ihm auf den Zahn fühle, und wenn ich ihm, wie jetzt eben, Faustregeln eintrichtere, mit deren Hilfe er ein bißchen aufholen kann, wenn er will. – Obwohl es natürlich zu spät ist, weil Sie, Herr Doktor, sechs Wochen lang bei ihm nicht auf dem Kiwif gewesen sind.«

Die Anrede Herr Doktor war ein Zeichen dafür, daß er sich wieder in die Hand bekommen hatte.



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